Goethe an Johann Friedrich Reichardt (1791)

Originalbrief von Johann Wolfgang Goethe an Johann Friedrich Reichardt über seine eigenen optischen Versuche. Weimar, 17. November 1791

MTAK 115.23

Meine bekannte Schreibescheue hat diese Zeit her so mancherley Entschuldigungen gefunden daß meine Freunde wenig von mir gehört haben, ich ermanne mich heute um auf Ihren Brief zu antworten. Ich freue mich Sie hier zu sehen, und wenn ich Ihnen gleich kein Quartier anbieten kann (der Schweizer Meyer, dessen Sie Sich aus Venedig erinnern bewohnt meinen obern Stock) so sollen Sie doch übrigens auf das freundlichste empfangen seyn; ich hoffe Zeit genug zu finden die wichtigen Angelegenheiten der fünf Sinne mit Ihnen abzuhandeln.

Mein Optisches Wesen und Treiben empfehle ich Ihrer fortdauernden Aufmerksamkeit es freut mich wenn Sie die Art der Behandlung mehr als die Sache ergötzt hat. Sie werden in der Folge noch[289] wunderbare Dinge zu sehen kriegen, und wenn ich mich nicht sehr irre so wird die Neutonische Hypothese von diverser Refrangibilität der Lichtstrahlen, von ihrer Spaltung in sieben, oder Gott weiß wie viel, bunte einfache Strahlen wie eine alte Mauer zusammen fallen, wenn ich nur erst ihr Fundament werde untergraben haben. Denn einer so wohlvertheidigten Vestung ist blos durch miniren anzukommen. Ich werde Versuch an Versuch stellen und die Theorie nicht eher vortragen biß sie jeder aus den Versuchen selbst nehmen kann und muß.

Lassen Sie uns die Akustik gemeinsam angreifen! Diese großen Gegenstände müssen von mehreren aber zu gleicher Zeit bearbeitet werden wenn die Wissenschaft fortrücken soll. Ich kann mich nicht genug auf die Chymie und auf den chymischen Theil der Naturlehre berufen. Eine Wissenschaft kann nie das Besitzthum eines einzigen werden und wenn sie es eine Zeitlang wird, so schadet auch ein solcher außerordentlich Mensch indem er nutzt, oft beydes in gleichem Maaße. Ich muß nur langsam gehn aber ich freue mich schon sehr über die Theilnahme, die thätige nämlich, die ich von allen Seiten bemerke. Besonders hat das Alter unter vielen Nachtheilen den Vortheil daß es nun Jugend hinter sich sieht, die zum neuen Lust hat. Gewiß es war mit eine Absicht als ich die Kärtchen zum Vortrag wählte diese sinnlichen Eindrücke unter die Kinder zu verbreiten,[290] ich hoffe in einigen Jahren soll das alles anders aussehen. Lassen Sie uns conferiren und jeden von seiner Seite arbeiten, ich habe mich schon mit einem Mahler und Mathematiker innig associirt und hoffe bald für die übrigen Fächer auch nahe und reine Verbindungen. Leben Sie wohl und grüßen die Ihrigen. Schreiben Sie mir wenn Sie kommen.

W. d. 17. Nov. 1791.

G.